Finanztagebuch

Wird Europa Argentinien?

By 2. Feber 2011 Juli 31st, 2023 No Comments

Nach der hektischen „Rettungsaktion“ Irlands Ende des vergangenen Jahres scheint Ruhe eingekehrt. Doch an den Anleihemärkten ist davon wenig zu spüren: griechische und irische Anleihen sind bereits wieder auf ihren Tiefstkursen von 2010 angekommen:

Gerade in den USA wird die Lage europäischer Schuldner weiterhin skeptisch beurteilt; von einer endgültigen Lösung der Krise könne keine Rede sein; die vermeintlichen „Rettungen“ Griechenlands und Irlands seien bloß ein Aufschub gewesen.

Paul Krugman fragt in einem kürzlich publizierten Kommentar daher polemisch: „Ist Europa noch zu retten?“; der Aufsatz lässt die Geschichte und die Hoffnungen der europäischen Integration noch einmal Revue passieren und verdeutlicht den hohen Einsatz der aktuellen Krise – aber auch, warum sie vorhersehbar war: die strukturelle Schwäche des Euro-Projekts ist, dass ohne Mobilität am Arbeitsmarkt und Fiskal-Integration eine Währungsunion problematisch ist.

Krugman sieht 4 mögliche Szenarien, die er
a) „toughing it out“ (durchbeißen)
b) Schulden-Restrukturierung
c) „full Argentine“
d) Wiederbelebter „Europäismus“ nennt.

Für a) gelten die baltischen Staaten als Vorbilder. Um die Budgetdefizite zu reduzieren, sollen die Staaten sparen. Darüber hinaus sollen aber auch strukturelle Handelsungleichgewichte ausgeglichen werden. Die Wettbewerbsfähigkeit soll durch niedrigere Kosten verbessert und damit Exporte gesteigert werden. Das kann entweder durch Steigerung der Produktivität gelingen (so hat Deutschland seit 20jahren stagnierende Reallöhne, dadurch im Vergleich zu seinen Handelspartnern eine relative Verbilligung der Produktion erreicht) oder durch Abwertung. Die Abwertung war das traditionelle Instrument zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit in „Weichwährungsländern“ wie Spanien. Diese Möglichkeit steht in der Währungsunion nicht zur Verfügung. Daher wird Ländern wie Spanien eine „innere Abwertung“ oder „innere Deflation“ empfohlen: Preise senken, indem die Löhne gesenkt werden und damit die Produktionskosten insgesamt und damit die Wettbewerbsfähigkeit steigern. Das ist leicht gesagt und schwer getan: Wer kann Lohnkürzungen durchsetzen? Da sogar im günstigsten Fall die Preise nicht sofort und nicht im gleichen Ausmaß wie die Löhne sinken können, sind reale Einkommensverluste unausweichlich.
Tatsächlich ist dieses Programm für alle betroffenen Staaten angelaufen; die Frage ist, ob es erfolgreich ist – „innere Abwertung“ funktioniert nur, wenn sie schnell und radikal erfolgt, wenn also die Löhne schnell und radikal fallen. Nur dann können die gefallenen Kosten/gestiegene Produktivität zu einer wirtschaftlichen Neubelebung innerhalb kurzer Zeit führen. Nur der Zeitfaktor ist der Unterschied zu einer langwierigen Rezession, in der schließlich das Lohnniveau ebenfalls sinkt.
Das eigentliche Problem ist jedoch, den Weg der „inneren Abwertung“ im Zustand einer Staatsschuldenkrise zu beschreiten. Denn dabei fällt zwangsläufig das BIP (zumindest vorübergehend), dadurch fallen aber auch die Staatseinnahmen während die Schulden stabil bleiben und damit steigt die Verschuldung in % des BIP logischerweise. Damit bleibt das Problem der „Überschuldung“ weiter bestehen und damit bleibt das Vertrauen der Märkte angespannt und daher kann jederzeit wieder eine akute Finanzierungs-Krise ausbrechen; bei jeder der laufenden Umschuldungen (durchschnittlich laufen jedes Jahr ungefähr 15-20% der bestehenden Staatsanleihen aus und daher müssen zu deren Tilgung neue Anleihen begeben werden) findet eine neue Vertrauensabstimmung statt.
Darin liegt auch der entscheidende Unterschied der baltisches Staaten zu Griechenland: erstere gingen mit minimaler Verschuldung in die Krise; bei Schuldenquoten um 100% BIP ist zu befürchten, dass die negativen Auswirkungen höher sind: sinkende Staatsausgaben bewirken ein sinkendes BIP – wodurch sich die Schulden in Prozent des BIP rechnerisch erhöhen – und, wenn nicht Wachstum der privaten Wirtschaft gegensteuert, sinkende Steuereinnahmen und daher trotz gesunkener Ausgaben weitere Budgetdefizite und weiter steigende Verschuldung. Daher sieht Krugman keine Alternative zu b), einer Schulden-Restrukturierung in Ländern wie Griechenland.

Wie gefährlich die mangelnde Manövrierfähigkeit durch eine Währungsunion sein kann, hat Argentinien vor Jahren demonstriert: in den 90er Jahren band die Regierung den Peso an den Dollar und erreichte damit das gewünschte: die Zinsen fielen, ausländische Gelder flossen ins Land. Der Effekt war der gleiche wie jener der Währungsunion auf Länder wie Spanien und Griechenland. Die Problematik zeigte sich, als das Land in eine Rezession rutschte: da Abwertung ausgeschlossen war, versuchte die Regierung durch strikte Sparprogramme und Steuererhöhungen das Budget zu konsolidieren; Damit wurde jedoch die Wirtschaftskrise verschärft und verlängert. Da Geldgeber das Vertrauen verloren hatten, mussten große Kredite bei internationalen Organisationen aufgenommen werden – ähnlich wie 2010 Griechenland und Irland. Kredite sind jedoch keine Lösung, nur ein Aufschub. Der Kollaps kam 2002: das Finanzsystem brach zusammen, damit auch die Bindung an den Dollar, der Peso stürzte ab, Argentinien bediente seine Anleihen nicht mehr. Das ist das Gespenst, dass auch für die EURO-Peripherie droht.
Variante c), ein „full Argentine“ hieße daher, zusätzlich zu der Schuldenreduktion einen Austritt aus der Währungsunion. Gemeinhin wird als Hindernis hierfür gesehen, dass schon bei der Ankündigung der Möglichkeit eines solchen Schrittes eine Bankenpanik eintreten würde, die das Land ruinieren würde. Allerdings zeigt das Beispiel Argentinien, dass eine solche Panik im Zuge eines massiven Vertrauensverlustes sowieso eintreten kann – und wenn dann die Regierung alle Konten eingefroren hat, kann der Währungsaustritt sehr wohl erfolgen.
Die einzig optimistische Lösung ist d), die Vertiefung der europäischen Integration; das hieße die Ausdehnung der zentralen Zuständigkeit auf die Fiskalpolitik und die Einführung jener „Transferunion“, die die Deutschen so fürchten. Ein sinnvolles Instrument wären die „E-Bonds“, also gemeinsame Anleihen aller EU-Staaten. Dadurch würden alle Staaten füreinander haften; vor allem aber würde sich das Zinsniveau für alle Staaten einem Durchschnitt annähern – für Staaten wie Deutschland, die derzeit nur 3% Zinsen zahlen, natürlich ein Nachteil.
Krugman sieht es als wahrscheinlich an, dass der Druck zu solchen Reformen sich bald verstärken wird: wenn nämlich die Sparprogramme und die „innere Abwertung“ in den Krisenstaaten nicht die gewünschten Effekte haben und die Notwendigkeit einer Entschuldung auftritt.

Das ist also eigentlich Krugman’s Argument: nicht vier Handlungsoptionen, sondern eine Prognose aus der sich eine Alternative ergibt: die Strategie des Durchbeißens wird nicht von Erfolg gekrönt sein (das ist die Prognose), woraufhin es folgende Alternative gibt: entweder eine erhöhte Integration, d.h. koordinierte Fiskalpolitik, gegenseitige Haftung in Form von gemeinsamer Anleiheemission – also gemeinsame Schulden -, also eine Transferunion oder Zahlungsausfall und „haircut“ einzelner Staaten.
In der Praxis wird dies ähnlicher sein als es in der Theorie klingt: wenn Irland seine Schulden „umstrukturiert“ und den Gläubigern nur eine Quote anbietet, werden englische, deutsche und französische Finanzinstitute – vor allem Versicherungen – die Hauptleidtragenden sein; angesichts der angespannten Bilanzsituation europäischer Finanzinstitute werden daraufhin die jeweiligen Staaten wiederum zu Rettungsaktionen greifen. Diesen Punkt betont Satyajit Das in einem Online-Beitrag mit dem dramatischen Titel „European Death Spiral“. Mit dem Titel weist Das auf den Dominoeffekt, den ein Zahlungsausfall – oder auch nur der begründete Verdacht eines solchen – auf die anderen Staaten hätte. Er sieht verstärkte Integration als einzige Möglichkeit, dies zu verhindern.

Ähnlich wie Krugman argumentiert auch Nouriel Roubini in „A Survival Strategy for the Eurozone“: das derzeit geübte Durchwursteln („muddle through“), das im wesentlichen aus der Strategie „borgen und beten“ besteht, resultiert in einem instabilen „Disequilibrium“, das wahrscheinlich in einem Auseinanderbrechen der Union resultiert, wenn nicht Schritte zur verstärkten Integration gesetzt werden. Aber selbst dann sieht Roubini die Restrukturierung bestehender Schulden („haircuts“) als unvermeidlich an. Roubini sieht letztlich nur die Alternative zwischen geplanter, gemeinsamer Restrukturierung oder chaotischer individueller. Das Zeitfenster für ersteres schließt sich seiner Meinung 2011.

Diese drei US-amerikanischen Kommentare repräsentieren die Mehrheitsmeinung jenseits des Atlantiks – und eigentlich auch jenseits des Ärmelkanals: Fassungslosigkeit gegenüber dem europäischen Durchwurstelns, die Überzeugung, dass dieses letztlich nicht erfolgreich sein kann und entweder „Umstrukturierungen“ – also teilweise Abschreibung – von Staatsschulden und/oder verstärkte Integration und Transferzahlungen erforderlich sind. Der Kontrast zu den (kontinental)europäischen Politikern ist eklatant: diese beteuern seit 2 Jahren, dass der jeweils letzte gesetzte Schritt nun aber endgültig alle Probleme gelöst hat, nur um wenige Monate oder sogar nur Wochen später den nächsten zu beschließen, erklären weitere Transferzahlungen für undenkbar und die Krise des Euros zur Folge bösartiger Spekulanten.

Allerdings muss in der EU-Diskussion auf die Zwischentöne gehört werden; ständig werden neue Begriffe geschaffen, die harte Entscheidungen verschleiern und vermeiden: so schließen zwar die Deutschen Transferzahlungen oder gemeinsame EU-Anleihen (E-Bonds) kategorisch aus, gleichzeitig stellt aber die EFSF („European Financial Stability Facility“) – also die Finanzierung des „Rettungsschirms“ – letztlich genau das dar: mit gesamteuropäischer Haftung werden Anleihen begeben, die als Kredite an notleidende Staaten weitergereicht werden. Damit wird die traditionelle Strategie der EU fortgeführt, mit kleinen Schritten neue Sachzwänge herzustellen, die dann weitere Schritte erzwingen.
Tatsächlich werden also bereits Schritte in Richtung vertiefter Integration gesetzt, nur werden sie euphemistisch bezeichnet.
Auch die „Umstrukturierung“ nationaler Schulden ist wahrscheinlicher, als es die betreffenden Äußerungen der Politiker nahe legen. Schließlich meint ja auch Angela Merkel, wenn sie von „privater Beteiligung an der Lösung künftiger Schuldenkrisen“ spricht, nichts anderes, als dass die privaten Gläubiger von Staaten wie Griechenland auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten. Gerade für diesen Vorgang – der bei Unternehmen Konkurs und Quote hieße – werden laufend neue Begriffe erfunden; kein Staat geht jemals in Konkurs, er stellt seine Zahlungen – an seine inneren Gläubiger wie Beamte, Pensionisten oder an die äußeren, also Anleiheinhaber – ganz oder teilweise ein und/oder verhandelt dann neue Konditionen: Gehalts/Leistungskürzungen im inneren, Zinsaufschub, -reduktion oder Laufzeitverlängerung im äußeren Verhältnis. „Umstrukturierung“, „haircut“, „Umschuldung“ meint in Nuancen alles das gleiche: ein Staat zahlt seine Schulden nicht (ganz oder wie vereinbart).
Eine schöne neue Umschreibung präsentieren griechische Politiker derzeit: Griechenland könne seine Anleihen rückkaufen. Griechenland borgt sich neues Geld – etwa von der EZB bzw. der EFSF – und kauft damit am Markt zum aktuellen Kurs von 70% Schulden zurück und hätte damit eine Entschuldung von 30% geschafft, bzw. den Gläubigern eine Quote von 70% angeboten. Das macht für Griechenland natürlich viel Sinn, ist aber verpönt, weil es eine gravierende Manipulation durch einen Staat bedeutet. Aber es wäre sehr europäisch: die EZB kauft griechische Staatsanleihen zu 70%, überträgt diese mit irgendeinem neuen Mechanismus an

Griechenland, und schon ist Griechenland teilentschuldet ohne irgendein hässliches Wort wie „Umschuldung“ in den Mund nehmen zu müssen.

Das schöne für die Europäer an einem solchen Verfahren wäre, dass es rasch, stillschweigend und ohne Verletzung irgendwelcher früherer Vereinbarungen durchführbar wäre. In der Praxis besteht die Schwierigkeit darin, dies in einem wirkungsvollen Ausmaß zu tun, ohne dass die Kurse deutlich ansteigen. Aber in welcher Form auch immer, eine Schuldenreduktion Griechenlands ist notwendig, weil das Land nicht die ökonomische Kraft hat, sich aus einer Abwärtsspirale von Rezession, sinkenden Einnahmen, Erhöhung der Defizite und damit der Schulden, dadurch sinkender Glaubwürdigkeit und weiter steigenden Zinsen zu befreien. Genau diese Annahme der Marktteilnehmer offenbaren die weiterhin und wieder tiefen Kurse griechischer Anleihen.

Ähnlich wird Irland von den Märkten eingeschätzt, allerdings dürfte die Wahrscheinlichkeit einer „Umschuldung“ weniger dem mangelnden Vermögen geschuldet sein als vielmehr dem mangelnden Willen. Die Frage, ob das „Durchbeißen“ erfolgreich sein kann, ist nicht nur eine ökonomische, sondern eine politische. Ob die BürgerInnen der betroffenen Staaten die tiefen Einschnitte der „inneren Abwertung“ erträglich finden, hängt maßgeblich davon ab, ob sie diese als gerecht empfinden. Die deutsche Hyperinflation der 20er Jahre, die das Agieren der Deutschen in der heutigen Krise bestimmt, wurde wesentlich dadurch verursacht, dass die Reparationszahlungen als ungerecht empfunden und eine expansive Geldpolitik als einfachste Lösung gesehen wurde. Es sollte daher zu denken geben, dass die irische Presse den „Rettungsschirm“ der europäischen Partner als aufgezwungene Bestrafung empfand, die in erster Linie den Banken der Gläubigernationen half. Und dafür wurde, genau, der Begriff der Reparationszahlung verwendet. Es ist wahrscheinlich, dass – eher bald als später – in Irland eine politische Mehrheit zugunsten einer Bestreitung der Rechtmäßigkeit der Staatsschulden entsteht und dies in einer – wie auch immer gearteten – Reduktion der Schulden mündet.

Eine solche Umschuldung würde aber, vorausgesetzt sie erfolgt in einem plausibel eingeschränkten Rahmen und nicht als wilde Einzelmaßnahme, vermutlich zu einer deutlichen Beruhigung der Lage führen, weil ein Zugewinn an Klarheit und Planbarkeit mehr zählt als der Verlust bei einzelnen Anleihen. Ein solcher Schritt könnte also paradoxerweise zu einer deutlichen Aufwertung des Euro führen.

Zusammengefasst: den US-amerikanischen Kritikern ist zuzustimmen: die Schuldenkrise der EU ist keineswegs beigelegt; die bisherigen „Rettungs“-maßnahmen sind nicht ausreichend. Auch die vorgeschlagenen Lösungen sind die richtigen: teilweise Entschuldung einzelner Staaten und verstärkte Integration aller. Im Gegensatz zu den Kritikern sehe ich jedoch sehr wohl Schritte in eben diese Richtungen; die diskursiv-trippelnde Fortbewegungsart der Europäer wird wohl von Amerikanern leicht als Stillstand missverstanden.

Für Investoren folgt daraus: die Kursverluste peripherer europäischer Staatsanleihen werden innerhalb der nächsten Monate oder Jahre realisiert – was also derzeit meist nur Buchverluste sind, wird durch Umschuldungsaktionen fixiert. Das wird Auswirkungen auf das Eigenkapital einiger Banken haben, vor allem aber werden europäische Lebens- und Pensionsversicherungen deutliche Abschreibungen in ihren Deckungsstöcken vornehmen müssen – das wiederum trifft letztlich die Versicherungsnehmer: die Erwartung von Gewinnen in solchen Versicherungen wird wohl auf längere Zeit enttäuscht werden.
Die Märkte – Anleihen und Währungen – werden turbulent bleiben; wie Kenneth Rogoff schreibt:
“No risk factor is more dangerous for a currency than policymakers’ refusal to face fiscal realities; until European officials do, the euro remains vulnerable”
Letztlich läuft das hier skizzierte Verfahren aber auf eine deutliche Aufwertung des Euros hinaus, wenn die Unsicherheit beseitigt wird.

die besprochenen Artikel:

PAUL KRUGMAN, Can Europe Be Saved? The New York Times, January 12, 2011

Satyajit Das, European Death Spiral – Communicable Diseases. Nakedcapitalism.com, January 11, 2011

Nouriel Roubini, A Survival Strategy for the Eurozone. Project Syndicate, 2010-12-16

Kenneth Rogoff, Armageddon Can Wait Project Syndicate , 2011-01-03