Finanztagebuch

Griechenland: Wessen Krise?

By 25. Mai 2010 Juli 31st, 2023 No Comments

 

Was bisher geschah:
Aufgrund des hohen Defizits drohte Griechenland die Zahlungsunfähigkeit und ein Übergreifen der Schuldenkrise auf andere europäische Staaten. Inzwischen sind wir soweit, dass die Währungsunion insgesamt bedroht scheint.

Wie war das möglich? Zur Erklärung des Erstaunens: Griechenland erwirtschaftet 2% des EU-BIPs, ist somit ökonomisch wenig bedeutend; das Überschwappen der Krise auf relevante Staaten wie Spanien und Italien ist, zumindest in dieser besonderen Dramatik, wenig wahrscheinlich. Worum geht es also?

A) die wirtschaftlichen Ungleichgewichte im EURO-Raum

1) Das Problem sind nicht die Höhe des griechischen Defizits oder die Höhe seiner Gesamtschulden. Das Problem ist, wie Griechenland langfristig seine Schulden a) bedienen und b) auch tilgen könnte.
2) Das richtet den Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung: die Schulden Griechenlands sind nicht plötzlich durch die Finanzkrise 2008 entstanden, sondern jahrelang gewachsen, und zwar wesentlich nicht durch zu viele Beamte, Pensionisten und Korruption (das sind alles Faktoren), sondern durch das Produktivitätsgefälle zwischen Ländern wie Deutschland (hohe Produktivität = hohe Wettbewerbsfähigkeit = hoher Export) einerseits und Ländern wie Griechenland andererseits (niedrige Produktivität = niedrige Wettbewerbsfähigkeit = hoher Import). Zur Veranschaulichung der Dramatik: Deutschland wickelt zwar nur rund 2/3 seines Außenhandels mit der EU ab, erzielt aber hier fast seinen gesamten Handelsbilanzüberschuss! (Dieser Überschuss betrug zuletzt 200 Milliarden Euro – pro Jahr!) Der Liquiditätsboom, den die niedrigen Zinsen nach der Währungsunion brachte, wurde in Griechenland großteils in Importen konsumiert – anders gesagt: damit wurde Deutschland subventioniert! Die Schere ging jedes Jahr weiter auf; das bewirkt in Griechenland weniger wirtschaftliche Leistung, damit weniger Steueraufkommen bei gleichzeitig höheren Sozialausgaben.
3) Deshalb geht die ganze Debatte um die Sanierung des griechischen Staatshaushalts am Kern des Problems vorbei: auch wenn der griechische Staat seine Ausgaben drastisch senkt, ist damit nicht unmittelbar das strukturelle Ungleichgewicht gelöst. Das kann nur an beiden Enden gleichzeitig gelöst werden, also auch in Deutschland.
4) Das Problem Deutschlands ist: trotz seiner hohen Exportüberschüsse erzielte der Staat keine Budgetüberschüsse. Die deutschen Staatsausgaben sind für seine Wirtschaftsstruktur massiv zu hoch. Hätte nämlich der deutsche Staat Überschüsse erwirtschaftet, dann könnten diese – so wie zwischen China und den USA – zum Ausgleich griechischer Defizite verwendet werden. D.h. es hätte weder eine griechische Anleihenkrise gegeben, noch wäre der Wert des Euro – also das Abbild der Summe aller einzelnen Staatshaushalte und Volkswirtschaften – so drastisch gefallen.
5) Daher ist die Frage, wie dramatisch es mit der Währungsunion weitergeht, zum gegenwärtigen Zeitpunkt fast ausschließlich davon abhängig, ob die Deutschen einen Beitrag zum Ausgleich der Handelsbilanzen leisten – etwa durch Lohnerhöhungen.
6) Tun sie das nicht, wird die aktuell hysterische Skepsis am Euro sich als gerechtfertigt herausstellen. Einschränkend sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die massiven Sparprogramme in Ländern wie Griechenland und Spanien eine Reduktion des Imports bewirken werden und sich dadurch die Ungleichgewichte automatisch reduzieren.

B) Das Problem der Staatsschulden
Die Unsicherheit an den Märkten ist gerechtfertigt, weil am Beispiel Griechenlands gerade ausgetestet wird, was mit überhöhten Staatsschulden in einem Land mitten im Kreis der entwickelten Volkswirtschaften passiert. Diese Frage ist des Pudels Kern und niemand kennt die Antwort. Die Schulden der USA (ca. 100% BIP), Japans (200% BIP) und der EU-Staaten (rd. 90% BIP) sind historisch exorbitant hoch, nach aller Vernunft niemals tilgbar und bei normalen Zinsniveaus von 6% kaum leistbar, bei historisch durchaus üblichen höheren Zinsen von 12% unleistbar (selbst bei den aktuellen, historisch extrem niedrigen durchschnittlichen Zinsen aller österreichischen Staatsanleihen von 3,5% fressen die Zinszahlungen bereits 15% des Budgets auf). Aber Anleihen stellen den Hauptteil aller Veranlagungen dar, vor allem machen sie den Grossteil aller konservativen Veranlagungen aus (Lebens- und Pensionsversicherungen!). Dass sie trotz aller mathematischen Unwahrscheinlichkeit immer noch als sicher gelten ist das Ergebnis eines fast blinden Vertrauens in Staaten. Wird dieses Vertrauen jedoch erschüttert, wäre eine Panik, eine Umwälzung unseres Finanzsystems die Folge. 2008 wäre im Vergleich dazu harmlos.
Das also ist die Frage: ist Griechenland ein chaotisches Land an der „Peripherie“, in der es immer wieder isolierte Staatsausfälle gibt (Argentinien, Mexiko, Russland…) oder ist Griechenland im Herzen Europas und nur der Vorbote eines Dominoereignisses, das nach und nach alle europäischen Staaten und danach die USA und Japan umstößt. Das ist übrigens die einzige Erklärung, warum die US-amerikanischen Börsen so sensibel auf Nachrichten aus Griechenland reagieren.

1) Inzwischen ist klar, dass Griechenland ohne Hilfe tatsächlich in den Bankrott rutschen würde.
2) Selbstverständlich hätte die EU aufgrund ihrer Verträge und ihres deklarierten Selbstverständnisses Griechenland aus der Währungsunion ausschließen müssen, als bekannt wurde, dass es seine Zahlen gefälscht hatte.
3) Da dies nicht getan wurde, kam die EU in eine gefährliche Zwickmühle: die Maastricht-Kriterien waren ja genau dazu gedacht, um solche Schuldenkrisen zu vermeiden. So gewiss waren die Autoren, dass dies wirkt, dass es keinerlei Vorkehrungen dafür gab, was denn zu geschehen habe, wenn ein Mitglied in die Zahlungsunfähigkeit rutscht.
4) Diese Zwickmühle wurde über Monate öffentlich ausgespielt, indem die beteiligten Akteure halbherzige, widersprüchliche und völlig ungenügende Aussagen tätigten, denen wiederum noch ungenügendere Handlungen folgten.
5) Dieses Lavieren hat erst jenes Misstrauen geschaffen, dass jetzt die griechische Farce zu einer europäischen Existenzfrage hochschaukelt.
6) Jetzt hat Europa tatsächlich keine Alternative mehr dazu, Griechenland um jeden Preis zu retten.
7) Das ist bis jetzt nicht geschehen: der vor 1 Woche angekündigte „Schutzschirm“ ist keine Hilfe, sondern die Zusage von zukünftigen Krediten unter bestimmten Voraussetzungen. Das stellt zwar Geld zur Verfügung, löst aber nicht die langfristige Zahlungsunglaubwürdigkeit. (Die Euphorie, mit der europäische Akteure dies präsentierten und mit der es aufgenommen wurde, war wirklich völlig daneben. Ein deprimierendes Beispiel für mangelnde Entschlossenheit einerseits, mangelnde Einsicht andererseits.)
8) Jetzt muss Griechenland tatsächlich mit Schuldenerlässen geholfen werden, d.h. die EU bzw. die anderen europäischen Staaten müssen griechische Schulden tilgen – also die griechischen Schulden auf alle europäischen BürgerInnen aufteilen.
9) Der Währungskommissar Olli Rehn hat dafür das geeignete Instrument vorgeschlagen: die Ausgabe von „Euro-Bonds“ direkt durch die Kommission. Die Lösung der griechischen Krise liegt in einer Erhöhung der wirtschaftlichen Integration und Zentralisierung. Hierin liegt auch die Chance: dass die Krise in einem unbedeutenden Staat der Währungsunion dafür genutzt wird, jene Instrumente zu schaffen, die künftige Krisen in bedeutenden Staaten verhindern können.
10) Die Lösung der jetzigen Krise liegt in einer Erhöhung der wechselseitigen Abhängigkeiten in der EU. Es ist plausibel, dass die jetzige Krise auf diese Weise gelöst wird – weil es bei den tatsächlichen Schulden um relativ wenig Geld geht und dies für Europa gut leistbar ist und weil die Rettung Griechenlands inzwischen zu einer europäischen Schicksalsfrage gemacht wurde. Es sieht sehr danach aus, dass es ein isoliertes Problem bleibt und größere Staaten wie Spanien und Italien nicht betroffen sein werden.
11) Gleichzeitig wird durch die Erhöhung der Abhängigkeiten eine künftige Krise der Staatsschulden (in 2 bis 7 Jahren?) nur umso gravierender ausfallen.

C) Zusammenfassend:
Ein marginales Schuldenproblem hat sich aufgrund des unentschiedenen Handelns der europäischen Politiker und dem Verschweigen der Kernfragen zu einer europäischen Existenzfrage hochgeschaukelt; Kommissionspräsident Barroso, die deutsche Kanzlerin Merkel und EZB-Präsident Trichet tragen hierfür die Verantwortung. So oder so wird dies als historischer Wendepunkt erscheinen. Im Gegensatz zu allen Besänftigern, die irgendwelche ominöse „Spekulanten“ verantwortlich machen wollen oder glauben, dass zukünftige Kreditlinien eine Zahlungsunfähigkeit lösen könnten, muss deutlich gesagt werden, dass in dieser Krise tatsächliche, schwerwiegende Probleme zu Tage treten und daher die Unsicherheit und Skepsis gegenüber Euro und Europa gerechtfertigt sind. Im Gegensatz zu den Hysterikern muss aber auch gesagt werden, dass die Krise den Keim zu grundlegenden Verbesserungen in sich trägt. Das Ergebnis ist offen:

– Wenn Deutschland entweder sein Budgetdefizit auflöst oder seinen Außenhandelsüberschuss abbaut
– und die EU zu stärkeren, zentralen Überwachungs- und Finanzierungsinstrumenten findet
dann werden die Währungsunion und die EU insgesamt gestärkt aus der Krise hervorgehen;

– wenn aber weiterhin nur auf die Budgetkonsolidierung in südeuropäischen Staaten geschielt wird und
– weiterhin halbherzige Kreditzusagen als ultimative Problemlösung präsentiert werden,

dann ist die Krise bei weitem noch nicht ausgestanden, wird der Vertrauensverlust in die Gemeinschaftswährung eventuell zu Spaltungen führen.