Zeitgenössisch gab es zwar eine Debatte um das neue Phänomen der Blumen-Investition, die moralisch getränkte Verurteilung als Spekulationsblase ist aber eine Umschrift, die erst 200 Jahre später durch den schottischen Journalisten Charles Mackay erfolgte. Obwohl seine einzige Quelle ein späterer Bericht über zeitgenössische Flugblätter war, legte er die bis heute vorherrschende Sicht der Ereignisse fest.
Wie es zu dem exorbitanten Preisanstieg zwischen Herbst 1636 und Februar 1637 kam, ist immer noch zweifelhaft; interessant ist allerdings der nachträgliche Verlauf dieser Optionsgeschäfte: im Winter kann nicht die Zwiebel selbst gehandelt werden, sondern es wird ein Termingeschäft für den folgenden Sommer vereinbart. Nach dem Preisverfall Ende Februar fanden umfangreiche Verhandlungen statt, wie die seit November abgeschlossenen Geschäfte rückgängig gemacht werden könnten. Vermutlich sind die meisten dieser Geschäfte mit einer Abschlagszahlungen aufgehoben worden. D.h. es gibt Grund zu der Annahme, dass die vermeintliche Tulpenmanie real nicht stattgefunden hat.
Soweit es überhaupt eine Krise gab, betraf sie die bis dahin gültige Form der Geschäftsvereinbarung: ein auf Vertrauen basierendes System des Handels bzw. der Vorfinanzierung künftiger Geschäfte wurde angezweifelt. Der rechtliche Rahmen, insbesondere die Glaubwürdigkeit von Garantien, sind bedeutsam. Die Tulpenmanie war in dieser Hinsicht Symptom eines Kulturwandels in den Vertrauens-Ketten des holländischen Wirtschaftslebens.
Die gewissenhafte historische Analyse erlaubt somit erhellende Schlussfolgerungen für die gegenwärtige Krise. Nach dem langfristigen ökonomischen Nutzen von kurzfristigen Übertreibungen zu fragen, erhellt dramatische Unterschiede in scheinbar ähnlichen „Spekulationsblasen“; die aktuell andauernde europäische Finanz-Schuldenkrise ist nicht ein weiteres Beispiel einer Manie wie etwa die dot.com-Blase, sondern deren genaues Gegenteil: nicht Aufbruch in ein neues technologisches Zeitalter, sondern Symptom des Zusammenbruchs einer alten Ordnung.
Nachtrag 17.2.2022: gestern sah ich zufällig den Artikel von der englischen Historikerin Anne Goldgar aus dem Jahr 2018; viel eloquenter und besser recherchiert argumentiert sie das gleiche: die Manie hat nie stattgefunden. Der Anlass ihres Artikels ist der Vergleich von bitcoin mit der „tulip mania“ – den sie eben zurückweist: https://theconversation.com/tulip-mania-the-classic-story-of-a-dutch-financial-bubble-is-mostly-wrong-91413