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Bildungsstandards 2015

By 10. April 2016 Juli 31st, 2023 No Comments

Die Präsentation

Anfang April wurde der Bericht zur Überprüfung der Bildungsstandards im Bereich Deutsch der 4.Schulstufe des Jahres 2015 veröffentlicht – hier.

Die Präsentation und Diskussion in den Medien verknappte das auf die Aussagen, dass 70% der Kinder die Standards im Bereich Schreiben und 30% im Bereich Lesen nicht erfüllten, somit die Volksschule ihre Aufgabe, Grundkenntnisse zu vermitteln offenbar nicht erfülle. Das Nichterreichen der Standards hinge vor allem mit dem sog. Migartionshintergrund zusammen. (z.B. in diesem Artikel)

Die Bildungsministerin äußerte sich zufrieden mit den Verbesserungen gegenüber dem letzten Ergebnis aus dem Jahr 2010. Im Morgenjournal kommentierte ein Bildungswissenschafter, dass er diese „Gelassenheit“ angesichts solch katastrophaler Ergebnisse unverständlich fände.(http://oe1.orf.at/programm/432783)

Klärungen

  1. „Die Kinder können keinen geraden Satz schreiben“. Ich habe den umfangreichen Bericht gelesen. Das ist alles sehr klug durchdacht, methodisch aufwändig und raffiniert. Das Testverfahren ist komplex, sowohl von der Logistik, alle ViertklässlerInnen an zwei Tagen standardisiert zu prüfen, als auch von dem vielfältigen Format der Fragen: Satzlücken ergänzen, Multiple Choice, Aussagen mit richtig/falsch beurteilen, etc. Im Lösen der Beispielfragen muss ich mich konzentrieren, um zu verstehen, was die Aufgabe ist, weil es erstens unterschiedliche und zweitens ungewohnte Fragen sind. So wie jeder Test, aufgrund seiner Komplexität aber mehr als der durchschnittliche, testet dieser also neben seinem vordergründigen Inhalt auch die Test-Verstehens-Kompetenz. Wer das jeweilige Test-Verfahren geübt hat, oder die hierfür günstigen Eigenschaften besitzt, schneidet besser ab – unabhängig von der fachlichen Kompetenz. Die Fragen sind unterschiedlichen Schwierigkeitsgrade zugeordnet; entsprechend wurden manche von der Mehrzahl der Kinder richtig beantwortet, andere nur von einer Minderheit. Die Probe mit meinem 10-Jährigen ergibt, dass er „schwierige“ Fragen mit Leichtigkeit beantwortet, bei anderen ratlos ist, weil er die Frage nicht versteht: wenn unvermutet eine offene Frage auftaucht, für deren Beantwortung im Text nur Indizien vorliegen, es somit eine große Anzahl plausibler Antworten gibt, aber eben keine richtige oder falsche. Hier ist zu vermuten, dass je autoritärer die Lehrerinnen des Kindes sind, desto schwerer tut es sich mit dem Umschalten in freie, kreative Anworten.
  2. Die Antworten ergeben Punkte; die erreichte Anzahl wird in 4 Bereiche (nicht erreicht, teilweise erreicht, erreicht, übererfüllt) eingeteilt: Bis 400 Punkten gilt „nicht erreicht“, ab 522 „erreicht“, dazwischen „teilweise erreicht“ – prozentuell scheint das ein enges Feld, das nicht kategorisch übersetzbar ist, d.h. die 20% Punkteunterschied zwischen einem „nicht erreicht“ und einem knapp „erreicht“ sind nicht der Unterschied zwischen „unfähig“ und „perfekt“. Somit ist die Verurteilung der SchülerInnen, sie könnten zu 70% nicht schreiben, übertrieben. Das ganze Überprüfungsverfahren ist ein komplexes Projekt, dessen ebenso komplexe Ergebnisse schwerlich in kurze Aussagen von Scheitern und Versagen übersetzbar sind.
  3. Neben diesem Skandalisieren der Aussage „Standards nicht oder nur teilweise erreicht“ wird in der medialen Rezeption vor allem das Thema Migration aufgegriffen – in einer einfachen kausalen Verknüpfüng: Migration macht schlechte Ergebnisse. Die Zahlen scheinen überzeugend: von den Kindern insgesamt (mit und ohne Migrationshintergrund) erreichen 38% den Standard „Leseverständnis“ nicht oder nur teilweise; von den Kindern mit Migrationshintergrund jedoch 62%. Aber das ist statistisch fragwürdig: österreichweit stammen rd 22% der Volkschulkinder aus Einwandererfamilien; davon ist aber die größte Einwanderergruppe aus Deutschland, abzuziehen, weiterhin jene Familien, in denen ein Elternteil deutsch spricht, somit bleiben nur 15% Kinder, die aus nicht deutsch sprechenden Familien kommen. Demnach hat der Faktor „Migration“ zu einem Drittel keine Relevanz für Deutschkenntnisse – dennoch zieht sich seine Verwendung als statistisch relevant durch die Studie. Wofür dann mag er stehen? Die Antwort ergibt sich aus dem Zusammenhang von Migration und Schichtzugehörigkeit: Familien, in denen für beide Eltern Deutsch nicht die Muttersprache ist, gehören großteils der Unterschicht an. Und die Schichtzugehörigkeit hat einen massiven Einfluss auf das Abschneiden der Kinder in den Tests. Das wird in dem Bericht auch unmissverständlich dargelegt: das Bildungsniveau ist der anerkannte Indikator für die Schichtzugehörigkeit der Eltern. Der Zusammenhang zwischen Bildungsniveau der Eltern und den Testergebnissen der Kinder wurde ausgewertet und ist deutlich: In dem Bereich „Leseverständnis“ haben

insgesamt: 13% die Standards nicht erreicht, 25% nur teilweise erreicht,

Eltern nur Pflichtschulabschluss: 35% nicht erreicht, 37% nur teilweise (also 72%),

berufsausbildung: 16% nicht erreicht, 31% nur teilweise (also 47%),

Matura: 10% nicht erreicht, 23% nur teilweise (also 33%),

höhere Ausbildung: 5% nicht erreicht, 15% nur teilweise (also 20%).

D.h. der Einfluss des Bildungsniveaus der Eltern auf die Leistung der Kindern ist signifikant und deutlicher jener der Migration. Anders gesagt: Migration hat nur insofern einen Einfluss auf den Testerfolg, als Migration und Schicht korrelieren; insofern Einwandererfamilien bildungsfern sind und der Unterschicht angehören, erzielen deren Kinder schlechtere Ergebnisse in den Tests; insofern Einwandererfamilien bildungsnahe sind und der Mittelschicht angehören (oder im Heimatland angehörten), hat Migration keinen Einfluss auf die Testergebnisse der Kinder. Migration ist daher ein mittelbarer, nicht ein kausaler Faktor; weniger geschwollen ausgedrückt: Migrationshintergrund ist wurscht, auf die Schicht der Eltern kommt es an. Eine anekdotische Veranschaulichung aus dem populär-statistischen Buch „Freakonomics“: ob die Eltern ihren Kindern häufig vorlasen, hatte keinen Einfluss auf frühschulische Testergebnisse; aber je mehr Bücher es zu Hause gab, desto besser schnitten die Kinder ab (hier der konkrete Artikel: Do Parents Matter? oder hier die website von Freakonomics).

Interpretation

Diese Unterscheidung ist wichtig, um die Ursachen für die schlechten Testergebnisse im Schulsystem zu verstehen: wenn schlechte Testergebnisse mit Migration erklärt werden, entsteht der Eindruck, dass das Schulsystem mit der neuen Herausforderung starker Zuwanderung eben überfordert ist. Das wäre kein Systemfehler, sondern eine verständliche Überforderung durch außergewöhnliche historische Ereignisse. Wenn das Problem aber die Schichtzugehörigkeit ist, handelt es sich keineswegs um ein neues Problem, sondern um ein seit Einführung der Schulpflicht bestehendes. Das österreichische Schulsystem scheitert heute so wie seit seiner Einführung an dem Ausgleich unterschiedlicher, schichtbestimmter Bildungschancen oder, umgekehrt betrachtet, es reproduziert immer schon die Klassenverhältnisse: Kinder aus Unterschichtfamilien lernen weniger (die zu Schulbeginn bestehenden Bildungsunterschiede weiten sich aus), haben damit weniger gesellschaftliche Chancen und bleiben selbst in der Unterschicht. Migration ist dabei nur das aktuelle Synonym, mit dem das Thema verhandelt und hinter dem die gesellschaftliche Wirklichkeit versteckt wird.

Der oben erwähnte Bildungsforscher meint, die Lösung des Problems sei wissenschaftlich einhellig: die flexiblere Förderung nach jeweiligen Bedürfnissen. Ein Schulsystem, dass von einer Norm ausgeht, einen Standard definiert und unterschiedliche Bedingungen und Chancen ignoriert, reproduziert die vorab bestehenden Unterschiede (insofern ist dann auch die Überprüfung der Bildungsstandards Teil des Problems, das sie zu untersuchen vorgibt). Dann ist zu fragen, ob das Reproduzieren von Bildungsferne und Fortschreiben von Klassenunterschieden tatsächlich ein Scheitern des Systems ist – oder seine ideologische Absicht. Denn das System bleibt trotz erwiesener Mängel unverändert, und zwar nicht aus Uneinigkeit über die wissenschaftlich empfohlenen Reformen, sondern wegen einer jahrzehntelangen, konsequenten politischen Reformverweigerung. Generationen von PolitikerInnen haben schlechte Bildung und den daraus entstehenden volkswirtschaftlichen Schaden von sub-potentialer individueller Entwicklung in Kauf genommen – gegen ihren Willen? Was es nicht braucht, sind weitere pädagogische Untersuchungen, sondern eine politische Protestbewegung der Betroffenen gegen die empörende, ideologisch motivierte und partikularinteressenfördernde Bewahrung des Status Quo.

Und, als persönlicher Nachtrag: unter einem System, das von Normen ausgeht und dem Erreichen von Standards und nicht der bestmöglichen Förderung unterschiedlicher Ausgangssituationen und der weitestgehenden Ausschöpfung von Potentialen verpflichtet ist, unter so einem System leiden nicht nur bildungsferne Familien, sondern alle, deren Kinder in der Norm nicht aufgehoben sind.