Wiederholt sich die Tragödie? Und warum gibt es eigentlich eine Krise?

Die Zeitungen berichten über eine Krise Argentiniens; nach jener der Türkei droht nun also die zweite, somit also auch bereits ein Dominoeffekt der Schwellenländer. Ein kurzer Faktencheck.

Was mir auffällt ist, dass in den Artikeln häufig falsche Prozentrechnungen angestellt werden. Das ist vielleicht trivial, aber es zeigt eine Nachlässigkeit im Rechnen, also Denken über ökonomische Phänomene.

Lustig war jener Journalist, der behauptete, die türkische Lira hätte um 120% abgewertet … eine Währung mit negativem Wert ist eine reizend paradoxe Vorstellung. Nun denn, die Grundlage der Prozentrechnung bestimmt, dass eine Währung zwar um mehr als 100% aufwerten – aber eben nicht gleichermaßen abwerten kann. So hat der Euro im Vergleich zur türkischen Lira in den letzten 2 Jahren um 120% aufgewertet – kostete 1 Euro am 11.9.2016 noch 3,3 TRY, waren es heute bereits 7,5 – aber das entspricht eben umgekehrt nur einer Abwertung der türkischen Lira um 56% – von 0,3 TRY pro Euro auf 0,13. Es ist eben bei Prozentrechnung entscheidend, ob der höhere oder niedere Wert die Berechnungsbasis ist. Der mathematische Unterschied zwischen 56% und 120% ist vielleicht nur als Symptom der Denkgenauigkeit relevant. Aber die Frage ist: wie wirkt sich die Verteuerung der Importe und die Verbilligung der Exporte aus? Bedeuten Währungsabwertungen eine Krise oder im Gegenteil eine Stimulation der Wirtschaft?

Es gibt ein Modell der Wirtschaftstheorie, das seit Jahrzehnten gilt, das „Mundell-Fleming-Modell“; aus diesem lässt sich ableiten, dass Wechselkurse Ungleichgewichte in der Handelsbilanz ausgleichen: hat eine Volkswirtschaft im Handel mit einer anderen eine negative Bilanz – d.h. mehr Importe als Exporte – bewirkt die erhöhte Nachfrage nach der ausländischen Währung deren Aufwertung. Da sich dadurch die Importe verteuern, nehmen sie ab, umgekehrt verbilligen sich die Exporte und nehmen zu, somit stellt sich wieder ein Gleichgewicht her. Nach diesem Modell haben vor dem Euro sog „Weichwährungsländer“ ihre Währungen periodisch abgewertet und somit ihre Wettbewerbsfähigkeit gefördert. Eine Abwertung der Währung ist also die logische Folge von Handelsbilanzdefiziten – und gleichzeitig deren Kur. Demnach wäre die Abwertung von türkischer Lira und argentinischem Peso nicht nur unvermeidlich, sondern auch heilsam – warum also die Aufregung?

Die erste Klärung ergibt sich aus der Betrachtung der gehandelten Waren: sind in- und ausländische Waren substituierbar, gilt das obige Modell; wenn durch die Aufwertung des Euros gegenüber der Lira deutsche Autos teurer werden, dann werden die türkischen Autos relativ billiger und dann werden einerseits die Türken und Türkinnen vermehrt einheimische Autos kaufen und überdies auch die Deutschen die billiger gewordenen türkischen Autos importieren. Aber so ist das offenkundig nicht, d.h. in einer arbeitsteiligen, globalisierten Welt sind Waren nicht einfach substituierbar, weil es für viele Waren gar keine einheimische Produktion gibt; daher gibt es 2 Möglichkeiten: a) es werden einfach entsprechend weniger Autos importiert, damit sinkt aber die Wirtschaftsleistung auch des importierenden Landes und das Handelsbilanzdefizit bleibt konstant oder b) es werden gleich viele Autos importiert und das Defizit vergrößert sich weiter; das passiert etwa bei Importen, die nicht, wie Konsum- und Luxusartikel, verzichtbar sind, also etwa Rohstoffe. Die gleiche Arithmetik gilt übrigens auch für Einfuhrzölle: wenn die importierten Waren nicht durch inländische ersetzbar sind, steigern sie das Handelsbilanzdefizit anstatt es zu senken.

Auch die zweite Klärung beruht auf der Betrachtung der tatsächlichen Form des Handels: die Ökonomin Gita Gupinath hat in mehreren Forschungsarbeiten und Publikationen das Mundell-Fleming-Modell widerlegt (siehe ihre website der Harvard University); die Untersuchung der tatsächlichen Abrechnung des Handels brachte sie zu der Erkenntnis, dass der Wechselkurs zwischen zwei Ländern nicht relevant ist – nämlich immer dann, wenn keine der beiden die USA sind. Wenn argentinische Exporteure und Importeure mit Japan handeln, ist die Abrechnungswährung nicht Peso oder Yen: dieser Handel wird in US-Dollar abgerechnet. Das nennt Gupinath das „Dominant Currency Paradigm“ (siehe): es besagt, dass nicht der Wechselkurs zwischen den Handelspartnern relevant ist, sondern der Wechselkurs beider zum USD. Nur ca. 10% des Welthandels betrifft die USA – aber 40% werden in US Dollar abgerechnet.

Daraus folgt aber eine Asymmetrie: wenn der Dollar gegenüber den Währungen beider Handelspartner steigt, verteuert es die Importe – aber auch die Exporte des einen Landes werden für den Handelspartner teurer, nicht billiger! Es entsteht also kein relativer Preisvorteil; die Mechanik des Mundell-Fleming-Modells kann nicht wirksam werden. Gupinaths Untersuchungen zeigten einen anderen Mechanismus: sinkt der USD im Verhältnis zu anderen Währungen, steigt das globale Handelsvolumen, steigt er, sinkt das Volumen.

Diese Beobachtung würde erklären, warum die Krisen in Argentinien und der Türkei gerade dann aufbrachen, als der USD von März bis August 2018 anstieg. Gupinath erklärt dieses Mechanismus in einem kurzen Youtube-Video:

Vermutlich noch entscheidender ist eine weitere Beobachtung von Gupinath: wenn die dominante Rechnungswährung der USD ist, dann ist es sowohl für die Exporteure als auch die Importeure sinnvoll, ihre Finanzierung ebenfalls in USD vorzunehmen, da sie dadurch das Währungsrisiko ausschalten. Der hohe Anteil an USD-Finanzierungen von Unternehmen in Schwellenländern wie Argentinien ist also nicht „Spekulation“ und auch nicht primär ein Ausnutzen des niedrigeren Zinsniveaus, sondern im Gegenteil Risiko-Vermeidung – nur dass das, was für einzelne Unternehmen risikoreduzierend ist, für die Volkswirtschaft risiko-erhöhend wirkt.

Durch den hohen Anteil der Verschuldung in der Fremdwährung USD werden die Unternehmen aber abhängig von dem Zinsniveau in den USA. Seit 2 Jahren steigen die Zinsen in den USA; der Effekt im Ausland wurde ausgeglichen dadurch, dass der USD 2017 fiel – bis März 2018, ab da stieg er, und somit fanden die Krisen ihren Auslöser.

Die Forschung von Gita Gupinath ist ein freudiges Ereignis, weil ein jahrzehntealtes Modell erstmals an den Wirklichkeiten überprüft wurde – und diese Überprüfung hat eine bessere Erklärung der Wirklichkeiten gebracht. Vor allem eine, die nicht von den Wirklichkeiten der USA oder Europas ausgeht, sondern von jener der Schwellenländer.

Update 20.9.: Und was geschah weiter mit Argentinien? Die letzten Wochen wurde es wieder ruhig in der Berichterstattung – und die Kurse der argentinischen Anleihen erholten sich, der Peso stabilisiert sich… und das liegt vermutlich, gemäß der Theorie von Gupinath, daran, dass der US-Dollar wieder abschwächte!

Und noch ein Hinweis in eigener Sache und Beleg, wie die Dinge ihre Kreise ziehen: 2011 schrieb ich einen Artikel mit dem Titel „Wird Europa Argentinien?“